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Die Covid-19-Pandemie mag in den Hintergrund gerückt sein, doch für viele Menschen sind die Folgen noch lange nicht vorbei. Long Covid ist eine unsichtbare und oft schwer fassbare Krankheit, die das Leben der Betroffenen dramatisch verändert. In der Schweiz kämpfen viele Long-Covid-Patienten nicht nur mit körperlichen Einschränkungen, sondern auch mit einem System, das ihre Krankheit oft nicht versteht oder anerkennt. Die Schicksale von Nicole Spychiger, Miriam Hürster und Brigitte Post zeigen eindrücklich, was es bedeutet, wenn produktive Menschen plötzlich durchs gesellschaftliche Raster fallen.
Diese drei Frauen stehen stellvertretend für Tausende von Betroffenen in der Schweiz, die eine ähnliche Odyssee durchleben. Ihre Geschichten verdeutlichen nicht nur die medizinischen Herausforderungen von Long Covid, sondern auch die systemischen Versäumnisse einer Gesellschaft, die mit den Langzeitfolgen einer Pandemie überfordert scheint.
Von der Erwachsenenbildnerin zur Sozialhilfeempfängerin
Nicole Spychiger war vor ihrer Covid-Erkrankung als Erwachsenenbildnerin tätig – ein erfüllender Beruf, der ihr nicht nur finanzielle Sicherheit, sondern auch persönliche Zufriedenheit brachte. Heute ist ihre Welt auf die eigenen vier Wände geschrumpft. Sie kann ihr Haus kaum mehr verlassen, da die Krankheit ihren Körper so erschöpft hat, dass selbst einfache Aufgaben zur unüberwindbaren Herausforderung werden. Das, was früher Alltag war – einkaufen, Freunde treffen, arbeiten – ist nun unmöglich geworden.
Ihre Kinder und ihr Mann müssen sie im Alltag unterstützen, eine Rollenverschiebung, die für die ganze Familie belastend ist. Die Diagnose Long Covid brachte nicht nur gesundheitliche Einschränkungen, sondern einen kompletten Lebenswandel mit sich: den Verlust ihres Jobs, ihrer finanziellen Sicherheit und ihrer Selbstständigkeit. Da sie immer noch zu 100 Prozent krankgeschrieben ist, hat sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld und wurde von der IV an das Sozialamt verwiesen – eine Situation, die sie sich niemals hätte vorstellen können.
“Ich dachte immer, wir seien gut versichert”, sagt Nicole. Doch die Realität sieht anders aus: Wer längere Zeit ausfällt mit einer Krankheit, die neu und schwer nachweisbar ist, fällt durch alle Raster. Die IV stellt viele Hürden für Long-Covid-Patienten auf. Für Nicole ist eine Wiedereingliederung derzeit ausgeschlossen, doch konkrete Unterstützung lässt auf sich warten. Ein Gutachtertermin, auf den sie seit über zwei Jahren wartet, ist immer noch nicht in Sicht.
Die Belastung durch die Krankheit und die Ungewissheit, wie es finanziell weitergehen soll, führen bei Nicole zu enormem zusätzlichen Stress. Ihre Freundin Irene Haldimann organisierte schließlich ein Crowdfunding, damit die Familie über die Runden kommt – eine “Verzweiflungstat”, wie Nicole selbst sagt. Dass eine Familie in der reichen Schweiz auf Spenden angewiesen ist, weil das Sozialsystem versagt, ist ein Armutszeugnis für unser Land.
Vom Top-Management zum Überlebenskampf
Miriam Hürster verkörpert den drastischen Fall aus der gesellschaftlichen Mitte. Sie war früher Managerin in einer großen Versicherung – eine Frau, die gewohnt war, Entscheidungen zu treffen, Teams zu führen und komplexe Projekte zu managen. Heute kämpft sie mit einer extremen Erschöpfung und der Krankheit ME/CFS, einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung, die durch Long Covid ausgelöst wurde.
Die Ironie ihres Schicksals ist bitter: Eine Versicherungsmanagerin, die nun selbst erleben muss, wie das System der sozialen Sicherheit versagt. Einfachste Aufgaben bringen sie an ihre Grenzen, und jeder Versuch, mehr zu tun, endet oft in einem “Crash” – einem körperlichen Zusammenbruch, der tagelang oder sogar wochenlang anhalten kann. Diese post-exertionelle Malaise ist das Kernsymptom von ME/CFS und macht jede Form der normalen Aktivität unmöglich.
Ihre Karriere musste sie aufgeben – nicht freiwillig, sondern weil ihr Körper einfach nicht mehr mitmacht. Obwohl sie bei der IV angemeldet ist, gibt es bislang keine Aussicht auf eine Rente. Die Wartezeiten und die ständige Unklarheit über ihre Zukunft machen ihre Situation noch belastender. “Werde ich dereinst selbstbestimmt wohnen können?”, fragt sie sich – eine existenzielle Sorge, die zeigt, wie unsicher ihre Zukunft geworden ist.
Miriams Fall verdeutlicht, wie schnell ein erfolgreiches Leben ins Wanken geraten kann. Von der Chefetage in die Abhängigkeit von Sozialleistungen – ein Absturz, der jeden treffen kann. Solche dramatischen Wendungen zeigen, wie wichtig es ist, die Realität von Long Covid zu verstehen.
Die halbe Rente, die nicht reicht
Brigitte Post, eine ehemalige Kommunikationsberaterin, ist eine der wenigen Glücklichen – wenn man es so nennen kann. Sie erhielt eine halbe IV-Rente, nachdem Long Covid sie ebenfalls mit ME/CFS lähmte und sie ihre Einzelfirma aufgeben musste. Doch der Begriff “Glück” ist relativ: Die Unterstützung reicht kaum, um ihre Gesundheitskosten zu decken, geschweige denn für ein würdiges Leben.
Besonders frustrierend ist für Brigitte, dass die IV ihren Fall ausschließlich auf Basis der Akten entschied, ohne dass sie jemals persönlich mit einem Vertrauensarzt sprechen konnte. Das Gefühl, missverstanden und auf ein Aktenbündel reduziert zu werden, ist für sie belastend. Die Kommunikation mit Ärzten und Behörden wird zu einer Kunst für sich, wenn das Gegenüber die Krankheit nicht versteht.
Die Kraft für einen Widerspruch fehlt ihr – ein typisches Dilemma für ME/CFS-Betroffene. Gerade wenn man Recht bekommen könnte, hat man nicht die Energie, dafür zu kämpfen. Das System nutzt die Schwäche der Kranken gegen sie aus, ohne es bewusst zu wollen.
Ein System in der Krise
Die Invalidenversicherung scheint überfordert zu sein, Long Covid als Krankheit einzuordnen und den Betroffenen gerecht zu werden. Anwälte und Experten sprechen davon, dass das System keine passenden Kriterien hat, um die komplexen und oft unsichtbaren Symptome wie extreme Erschöpfung oder Belastungsintoleranz zu erkennen. Die täglichen Entscheidungen, die Betroffene treffen müssen, bleiben für Gutachter oft unsichtbar.
Der Kampf um Anerkennung bei Long Covid zeigt systematische Probleme auf: Von 5000 angemeldeten Long Covid-Betroffenen erhielten nur etwa vier Prozent eine Rente. Diese erschreckende Quote verdeutlicht, dass hier nicht Einzelfälle scheitern, sondern ein ganzes System an seinen Grenzen operiert.
Viele Patienten haben das Gefühl, durchs Raster zu fallen, und erleben, wie ihr Leid oft auf eine psychosomatische Ebene geschoben wird. Das ist nicht nur ein bürokratisches Problem, sondern ein menschliches, das die Betroffenen zusätzlich belastet. Die harte Realität zwischen medizinischer Wahrheit und bürokratischen Hürden zeigt sich in jedem einzelnen Fall.
Die Gutachten erfassen oft das Wesentliche nicht: die Belastungsintoleranz, die post-exertionelle Malaise, die kognitiven Einschränkungen. Stattdessen werden Depressionsfragebögen verwendet – völlig am Krankheitsbild vorbei. ME/CFS kurz erklärt verdeutlicht, warum diese Herangehensweise zum Scheitern verurteilt ist.
Der Teufelskreis der Erschöpfung
Der Umgang der IV mit Long-Covid-Patienten zeigt, wie schwer es ist, eine Krankheit anzuerkennen, die nicht direkt messbar ist. Für die Betroffenen führt das oft zu enormem Stress, der ihre ohnehin knappen Energiereserven weiter belastet. Die Gutachten und Verfahren fordern viel von den Patienten, die bereits durch ihre Krankheit stark eingeschränkt sind, und oft führt eine einfache Untersuchung oder ein Termin zu einem mehrtägigen Erschöpfungszustand.
Es ist ein Teufelskreis: Je kränker die Menschen sind, desto weniger können sie für ihre Rechte kämpfen. Das System nutzt diese Schwäche – bewusst oder unbewusst – gegen die Betroffenen. Wer einen Crash nach einem Gutachtertermin erleidet, kann schwer glaubhaft machen, dass er arbeitsfähig wäre.
Diese psychische Belastung kommt zu den ohnehin schweren körperlichen Symptomen hinzu. Viele entwickeln zusätzlich Depressionen oder Angststörungen – nicht als Ursache ihrer Long Covid-Symptome, sondern als direkte Folge der jahrelangen Kämpfe mit Behörden und dem Gefühl, nicht verstanden zu werden.
Persönliche Geschichten, die Mut machen
Trotz aller Schwierigkeiten zeigen die Geschichten von Nicole, Miriam und Brigitte auch Mut und Durchhaltevermögen. Sie geben nicht auf, auch wenn das System sie im Stich lässt. Persönliche Geschichten wie diese sind wichtig, weil sie anderen Betroffenen zeigen, dass sie nicht allein sind.
Jede Geschichte, die erzählt wird, trägt dazu bei, das Bewusstsein für Long Covid und ME/CFS zu schärfen. Sie machen deutlich, dass es sich nicht um “Simulation” oder “Depression” handelt, sondern um schwere körperliche Erkrankungen, die das Leben fundamental verändern.
Bei ichbinkeineinzelfall.ch verstehen wir diese Kämpfe nicht nur theoretisch – wir erleben sie selbst. Auch wir sind von Long Covid betroffen, warten seit Jahren auf die IV und kämpfen täglich um Anerkennung und Unterstützung. Unsere Mitgliedschaftsoptionen bieten eine Plattform, wo sich Betroffene austauschen und gegenseitig unterstützen können.
Was wir daraus lernen können
Long Covid ist eine Krankheit, die viele Fragen aufwirft – medizinisch, gesellschaftlich und menschlich. Die Geschichten von Nicole, Miriam und Brigitte zeigen, wie wichtig es ist, dass unser System flexibel und anpassungsfähig wird, um auch solche Erkrankungen, die schwer greifbar sind, ernst zu nehmen und den Betroffenen zur Seite zu stehen.
Niemand sollte im Stich gelassen werden, weil eine Krankheit nicht in bestehende Kategorien passt. Die Menschen, die mit Long Covid leben, kämpfen täglich für ein Stück Normalität und Würde, und es liegt an uns als Gesellschaft, ihnen die Unterstützung zu geben, die sie verdienen.
Die Pandemie hat uns gelehrt, dass wir als Gesellschaft verwundbar sind. Jetzt müssen wir lernen, mit den Langzeitfolgen umzugehen – nicht nur medizinisch, sondern auch sozial und wirtschaftlich. Es braucht ein Umdenken in der IV, bessere Gutachterverfahren und vor allem mehr Verständnis für die Realität der Betroffenen.
Long Covid betrifft viele – auch in der Schweiz. Die Erfahrung zeigt: Es braucht dringend Veränderungen, um diesen Menschen die Hilfe und das Verständnis zukommen zu lassen, die sie so dringend benötigen. Denn am Ende kann es jeden treffen – und dann sind wir alle darauf angewiesen, dass das System funktioniert.
Die medizinischen Informationen ersetzen nicht die professionelle Beratung durch einen Arzt. Bei anhaltenden gesundheitlichen Problemen wenden Sie sich bitte an einen Mediziner.